An Svend Keller
Maschinenschriftlicher Brief
Rehbrücke, Leibnizstraße 73 am 03.01.
Lieber Svend,
Du schreibst nicht gerade oft, aber wenn Du mal schreibst, dann ist es immer wie ein geglückter Sputnik-Abschuß. Zu Deiner Vermählung meine allerherzlichsten Glückwünsche! Meine Empfindungen kann ich nicht besser ausrücken als durch !!!!! Ich sehe Dich immer noch in Haus 1 – ich glaube, es war 1950 – auf Deinem Strohsack sitzen und Bonbons in Farbplättchen verwandeln. Allerdings wird dieses Erinnerungsbild nun verdrängt durch eine Zukunftsvision: Künstler Keller als würdiger Greis, von einer Schar blühender Enkel aller Geschlechter umspielt, auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens. Oder habt ihr Ölfeuerung? Wenn der Kamerad Pajeken aus dem Kobü Dein Schwiegervater ist, so bitte ich sehr, ihn von mir zu grüßen. Mir selbst geht es soso; ich bin, wie man im Kobü sagen würde, Bildchenmaler im "Eulenspiegel", unserem satirischen Blatt. Für den Urania-Verlag arbeite ich nicht mehr, seitdem der Mann, der mir nach meiner Entlassung hilfreich und sehr verständnisvoll entgegenkam, nicht mehr dort ist. Im übrigen bleibt mir nicht das Los erspart, immer älter zu werden, in einigen Tagen werden es 60 Jahre, daß die Welt sich meiner erfreut. Neugierig bin ich auf zweierlei: Erstens, welche Sensation Du in Deinem nächsten Brief bringst, und zweitens, ob mich dieser Brief überhaupt noch am Leben trifft.
Dir und Deiner Frau die besten Grüße
Dein Karl Holtz
Bitte wenden!
Berlin, 5.1.
Lieber Svend,
wenn Du das Bedürfnis haben solltest, mir mal ausführlicher zu schreiben, dann schreibe doch an folgende Adresse:
Karl Holtz
Berlin-Charlottenburg 7
Postlagernd
Ich hole meine Post aus dem Westen dort immer ab. Teile aber die Adresse niemand anders mit.
Nochmals alles Gute
Dein Karl Holtz
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Svend Keller (31.5.1928 - 6.10.2004).
Der Vater Rolf (eigentlich Wilhelm Rudolf) Keller (5.6.1898 - 31.12.1971) war Grafiker in Chemnitz. Bei ihm hatte er nach dem Krieg eine Grafikerlehre begonnen. 1950 wurde er dann wegen "Verdachts der Spionage" zu zweimal 25 Jahren Zuchthaus verurteilt und war in Bautzen in Haft. 1956 wurde er entlassen und ging nach Hamburg, wo die Familie seiner Mutter lebte. Wegen seiner Kenntnisse in Grafik hatte er in Bautzen in dem dortigen Konstruktionsbüro (im Brief "KoBü" genannt) als Zeichner gearbeitet. Dort wurden technische Zeichnungen angefertigt, unter anderem Illustrationen für technische Fachbücher. In dem Konstruktionsbüro arbeitete auch Joachim Pajeken (Joachim Julius Albert Friedrich Pajeken, 22.4.1903 - 15.1.1970), der im Brief erwähnte "Kamerad Pajeken aus dem KoBü". Dessen Tochter Helene (Helene Lily Agnes Keller, geb. Pajeken, 6.6.1929 - 24.5.2020) heiratete Svend Keller Ende 1958.
Joachim Pajeken war Schiffbauingenieur aus Bremen. Er hatte in Rostock auf der dortigen Neptunwerft als Abteilungsleiter für Maschinenbau gearbeitet. Nach dem Ende des Krieges war er von russischen Besatzern verhaftet und nach Buchenwald gebracht worden. Später kam er nach Waldheim und gehört zu den Verurteilten der sogenannten Waldheimer Prozesse. Er kam dann nach Bautzen und arbeitete dort als Ingenieur im Konstruktionsbüro. Er wurde ebenfalls 1956 entlassen und ging nach Hamburg, wohin seine Familie nach dem Krieg geflohen war (seine Frau stammte aus Hamburg).
Svend Keller wurde nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker und einem pädagogischen Studium Gewerbelehrer in Hamburg und unterichtete dort u.a. technisches Zeichen (das er in Bautzen erlernt hatte). Joachim Pajeken arbeitete noch einige Jahre auf der Schlieker-Werft in Hamburg als Ingenieur.
[Text: Andreas Keller]
Provenienz: Privatbesitz